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vom
10.11.2002, Wirtschaft (Münchner Seiten), Seite M4, mit
freundlicher Genehmigung von Jann Ohlendorf (Autor)
Münchens
tapfere Pioniere aus dem Osten
Von Lorenz Goslich und Jann Gerrit Ohlendorf
Die
Stadt braucht Hilfe aus dem nahen und dem etwas ferneren Osten.
Vom Drang in den Westen profitiert München vielfach. Leicht haben
es die Neulinge nicht immer.
MÜNCHEN.
Anita Lönnig kann an diesem Wochenende stolz auf sich sein: Drei
Wochen lang hat sie die Hauptfiliale der Bäckerei Rischart am Marienplatz
geleitet, und das mit gerade einmal 21 Jahren. Die Karriere der
jungen Frau ist bemerkenswert, und sie ist typisch münchnerisch.
In ihrer Heimat, der märkischen Stadt Biesenthal, rund 30 Kilometer
nördlich von Berlin gelegen, wäre nicht viel aus ihr geworden. Zwei
Jahre lang suchte Lönnig dort vergeblich nach einem Ausbildungsplatz,
wiederholte ein Schuljahr, alles war vergeblich.
Dann
suchte sie das Weite. "Zu Hause hätte ich nur rumsitzen können",
sagt sie. An der desolaten Lage im idyllischen Biesenthal hat sich
bis heute nichts geändert. "Hier will keiner ausbilden, die Decke
ist zu dünn, es reicht einfach nicht", sagt der Elektromeister Jörg-Reinhard
Ihlow, Inhaber des Elektrogeschäfts Kaufhaus Biesenthal. "Da kann
man verstehen, daß die Jungen auswandern."
In München sind Zuwanderer, die mehr wollen als staatliche Beschäftigungsprogramme,
willkommen. Einige Berufszweige haben auch in Zeiten steigender
Arbeitslosenquoten große Schwierigkeiten, genug Kräfte zu finden,
und viele Unternehmer wissen: Arbeitnehmer, die für eine Arbeitsstelle
Hunderte Kilometer auf sich nehmen, Familie und Freunde zurücklassen,
sind häufig besonders tüchtig, eigenverantwortlich und belastbar.
Claudia
Bartsch wollte einfach "von zu Hause weg". Dabei hätte sie, im Gegensatz
zu vielen anderen, in ihrer thüringischen Heimat Eisenach durchaus
andere Chancen gehabt, wie sie erzählt. Aber sie hat eine Lehre
im Tagungshotel "La Villa" in Niederpöcking am Starnberger See vorgezogen
- und es inzwischen zur Tagungsassistentin gebracht. Schon seit
Jahren bildet La Villa Hotelfachkräfte aus den neuen Bundesländern
aus - eine Konsequenz aus dem Mangel an Nachwuchs für Gastronomieberufe
in und um München.
Regional
wird die Werbung um Arbeitskräfte aus dem Osten aber längst weiter
gespannt. "Wir suchen von Tschechien über Polen bis Rußland leistungsfähige
Mitarbeiter für deutsche Unternehmen", sagt der Erlangener Berater
Hatto Brenner. Allein 600 Pflegekräfte werden im Großraum München
benötigt, schätzt Roland Kassner, Abschnittsleiter beim Arbeitsamt.
Seit Jahren bildet die Staatliche Berufsfachschule für Krankenpflege
in München auch junge Leute aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
aus. "Aus dem letzten Ausbildungsjahr sind alle in München geblieben",
sagt Schulleiterin Irmgard Retzer. Auch wenn inzwischen von nachlassender
Bereitschaft, in den Westen zu gehen, berichtet wird, hofft die
Pflegebranche weiter auf den Osten: Ende November sollen mit der
"Sachsentour" weitere Pflegekräfte für München geworben werden.
Offenbar zeigen sich zwar nicht alle ostdeutschen Behörden kooperativ,
doch zwischen manchen Arbeitsämtern, so denen von München und Zwickau
oder von Starnberg und Eberswalde (Brandenburg), hat sich eine enge
Zusammenarbeit entwickelt. Die Arbeitsämter arbeiten mit privaten
Vermittlern zusammen. Einer von ihnen ist das Computer-Bildungszentrum
Zwickau (CBZ). Schulleiter Klaus Walter hat etliche Jugendliche
im Münchner Flughafen, im Einzelhandel und in Unternehmen der Region
untergebracht. "Bei Gleisbau Koch in Gilching haben wir fast ein
Nest", sagt er.
Der
Münchner Bildungsträger Peter Schnabl hat in diesem Jahr in zwei
Projekten 37 Personen aus dem brandenburgischen Eberswalde vor allem
in den Landkreis Starnberg geholt. Ein weiteres Projekt plant er
fürs Frühjahr. 18 der Jugendlichen sind inzwischen in hiesigen Unternehmen
beschäftigt. Andere haben schnell die Rückkehr vorgezogen. Als wesentliche
Hürde erweist sich oft der Mangel an günstigen Wohnungen. Geringverdiener
können sich die Stadt schlicht nicht leisten. "Bei unserem Gehaltsspektrum
muß die Wohnung mit dazu", sagt Kerstin Grünthaler. Sie leitet die
Beschäftigungsagentur der Post, die gegründet wurde, um akutem Personalmangel
vor allem in der Zustellung, zu begegnen.
Jeder
fünfte der rund 1300 Mitarbeiter im Briefgeschäft kommt aus den
neuen Bundesländern. Auch wenn die Post längst nicht mehr 120 offene
Stellen im Monat besetzen muß, sondern nur noch 5 bis maximal 15,
werden qualifizierten auswärtigen Bewerbern noch immer kostenlose
Plätze im Gästehaus für die ersten Monate angeboten. Später haben
die Zuwanderer Aussicht auf eine günstige Werkswohnung. Mit kostengünstigen
Zimmern werben auch die Bäcker. "Die Betriebe des Nahrungsmittelhandwerks
gewähren in der Regel Zimmer und Verpflegung", sagt der Lehrlingswart
der Münchner Bäckerinnung, Paul Schmidt.
Die
Großzügigkeit hat handfeste Motive: Ohne Hilfe aus dem Osten gäbe
es einen Semmelnotstand. Schmidts Schätzung nach kommt mehr als
die Hälfte der Bäckerlehrlinge in München aus dem Osten. Selbstverständlich
ist die Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft aber nicht:
"Die ganz großen Unternehmen sind selbst aktiv, auch Mittelständler
unternehmen einiges, aber die Kleinbetriebe tun sich schwer", sagt
Peter Finger, Projektleiter der Agentur Wohnwerk, einer Einrichtung
der Wohnforum München gGmbH und Anderwerk GmbH.
Ins
Leben gerufen wurde Wohnwerk vor allem, um die Chancen junger Zuwanderer
auf dem regulären Wohnungsmarkt zu verbessern. Bislang blieb der
Erfolg in dieser Hinsicht aus, erfolgreich vermittelt werden vor
allem - nicht selten ausgesprochen teure - Heimplätze. "Die Angebote
vom freien Wohnungsmarkt sind sehr dürftig. Wir konnten nur sehr
wenige Vermieter gewinnen", sagt Finger. Stiftungskapital soll nun
eine Wende einleiten.
Am
Dienstag wird sich eine Arbeitsgruppe mit Vertretern aus Wirtschaftsverbänden,
städtischen Referaten und Trägervertretern der katholischen Jugendwohnheime
über den Fortschritt bei der Stiftungsgründung informieren. Prominente
wie Oberbürgermeister Christian Ude und IHK-Präsident Claus Hipp
sollen helfen, Kapital einzuwerben, damit später etwa Ausfallbürgschaften
für private Vermieter finanziert werden können.
Ostdeutsche
BMW-Lehrlinge haben in München kaum Wohnungssorgen, aber offenbar
schon gewisse Ansprüche: Ihr Gästehaus verfügt über Billardtisch,
Fitneßraum und kostenlosen Internetzugang. Daß jungen Leuten etwas
geboten werden muß, scheint man auch im noblen Tagungshotel La Villa
zu glauben. Dort bekommen die Lehrlinge einen Dienstwagen - für
eine Ausbildung erster Klasse.
Die
nächste Einwanderungswelle steht bevor -
Positive Folgen in der Vergangenheit
Neue
Heimat: In Bayern haben nach dem Zweiten Weltkrieg etwa zwei Millionen
Vertriebene eine neue Heimat gefunden. Schon 1950 bestand die Münchner
Bevölkerung von damals 845 000 Menschen zu mehr als einem Zehntel
aus Heimatvertriebenen. Positive Folgen der Zuwanderung: Der Wandel
Bayerns vom Agrarland zum prosperierenden Gemeinwesen ist den Vertriebenen
wesentlich mitzuverdanken.
Dieser
verbreiteten Auffassung schließt sich auch das bayerische Arbeitsministerium
an. Dennoch sieht Barbara Dietz vom Münchner Osteuropa-Institut
wesentliche ökonomische Unterschiede zur heutigen Lage, so wegen
der Arbeitsintensität des Aufbaus nach dem Krieg oder den meist
guten Deutschkenntnissen der Vertriebenen gegenüber vielen Osteuropäern.Die
Zuwanderung von Arbeitskräften wertet Dietz gleichwohl auch heute
positiv.
Zuwanderung aus Ostdeutschland:
Zwischen
1999 und 2001 haben 23 314 Zuwanderer aus den neuen Ländern in München
ihren Hauptwohnsitz angemeldet, 8237 zogen weg. Bleibt ein Nettoplus
von 15 077 innerhalb von drei Jahren. In den vergangenen Monaten
hat das Interesse der Wirtschaft an Kräften aus dem Osten mit Ausnahme
einzelner Branchen nachgelassen. In einigen Ausbildungsberufen ist
der Anteil ostdeutscher Lehrlinge hoch. Einer Erhebung des städtischen
Wirtschaftsreferats zufolge sind diese Jugendlichen sehr jung -
das Durchschnittsalter liegt bei 17,7 Jahren -, in ihrer Heimat
erfolglos geblieben bei der Stellensuche - 67% - und nach der Ankunft
in München weitaus einsamer als Azubis aus dem Westen. Ein Fünftel
hat dauerhafte Integrationsprobleme. Die nächste Welle: Die Migration
insgesamt wird in den nächsten Jahren deutlich zunehmen, erwartet
Jürgen Turek, Geschäftsführer des Centrums für angewandte Politikforschung
(CAP) in München. Das CAP hat schon 1995 ein europäisches Einwanderungskonzept
vorgelegt. Eine aufgeschlossene Diskussion sei an der Zeit, meint
Turek. gl./jgo.
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